Fünf Ebenen der Scham – Eine persönliche Kartografie
In meiner Auseinandersetzung mit Scham habe ich verschiedene Ebenen erkannt, auf denen sich dieses Gefühl in uns zeigt. Jede dieser Ebenen berührt einen anderen Aspekt unseres Menschseins – vom sozialen Miteinander bis hin zum Fundament unserer Identität. Hier eine Gliederung dieser fünf Ebenen:
1.Soziale Scham
Diese Form der Scham entsteht, wenn ich gegen soziale Normen oder Regeln verstoße. Ich fühle mich – oder werde – ausgeschlossen aus der Zugehörigkeit der Gemeinschaft. Scham wird hier zur sozialen Regulation – sie weist auf eine Grenzüberschreitung hin und ermöglicht zugleich die Rückkehr zur Gruppe, wenn ich mich anpasse. Was aber noch wichtiger als die Anpassung ist, ist die Bereitschaft, die eigene Scham und das Fehlverhalten anerkennend zu fühlen, so dass meine soziale Umgebung sie in mir erkennen kann, so dass klar ist, dass ich es ernst meine. Das ist die Voraussetzung dafür, wieder in die Gemeinschaft aufgenommen zu werden.
2.Körper- oder Kulturscham
Hier geht es nicht um Fehlverhalten, sondern um familiär, kulturell oder gesellschaftlich vermittelte Gefühle von Unangemessenheit. Zum Beispiel das Schamgefühl beim Nacktsein – ein Gefühl, das nicht „natürlich“ ist, sondern geprägt von Erziehung, Kultur und sozialer Prägung. So gibt es Beispiele davon, dass Missionare Eingeborene zwangen, sich Kleidung anzuziehen und sie sich deshalb nicht mehr aus ihrer Hütte in den Kreis der Gemeinschaft wagten, … aus Scham.
3. Scham des Selbstwerts
Diese Form der Scham reicht tiefer als die alltägliche oder soziale Scham. Sie betrifft nicht einzelne Handlungen, für die man sich schämt, sondern das eigene Wesen. Es ist das Gefühl: „Mit mir stimmt grundsätzlich etwas nicht.“
Diese Scham ist eng mit einem erschütterten Selbstwertgefühl verbunden. Sie entsteht z. B. aus Erfahrungen, als Kind nicht bedingungslos angenommen worden zu sein – weder mit den eigenen Gefühlen, noch mit den Bedürfnissen oder dem Ausdruck der Persönlichkeit. Stattdessen gab es direkte oder subtile Botschaften: „So, wie du bist, bist du nicht richtig.“
Solche Erfahrungen führen dazu, dass sich im Inneren eine tiefe Ablehnung des eigenen Selbst entwickelt. Man beginnt, an sich selbst zu zweifeln, nicht weil man etwas falsch gemacht hat, sondern weil man glaubt, man selbst sei falsch.
Diese Art der Scham kann im späteren Leben lange unsichtbar bleiben – und doch wirkt sie fort: in Beziehungsmustern, im Umgang mit Kritik, im Streben nach Perfektion oder in der Angst vor Nähe. Sie bleibt vor allem deshalb unsichtbar, weil Scham, verbunden mit dem negativen Selbstwertgefühl einfach nicht auf Dauer aushaltbar ist und deshalb ins Unbewusste weggedrückt werden musste. Dieser Prozess wird andauernd unbewusst weitergeführt, was natürlich auch Energieaufwand bedeutet.
Die noch tiefere emotionale Ebene jenseits dieser Scham ist die existenzielle Scham – das Gefühl, überhaupt kein Existenzrecht zu haben.
4.Existenzielle Scham
Auf dieser Ebene wird Scham überwältigend. Sie fühlt sich lebensbedrohlich an. Der Kontakt mit ihr scheint so gefährlich, dass ich ihn um jeden Preis vermeiden will/muss. Es geht hier um eine stärkere Form als die vorher beschriebene Scham des Selbstwerts. Hier geht es nicht mehr um das soziale Selbst, sondern um das nackte Dasein – das bloße Sein in seiner ganzen Verletzlichkeit. Es fühlt sich nach dem totalen Wertverlust im Inneren an. Die Wucht dieser Gefühlsqualität ist für viele Menschen nahezu unerträglich. Und vermutlich ist das auch eine Ursache für Selbstmord und auch Fremdmord, für Tötungsdelikte.
5.Identitätsscham
Diese Ebene ist für mich die radikalste. In ihr stelle ich mein Selbstbild infrage, alles was ich bisher dachte zu sein, was ich seit Jahrzehnten versuche aus meinem Bewusstsein herauszuhalten und für andere unsichtbar sein zu lassen, erscheint. Wenn diese Scham auftaucht, geht es nicht mehr nur um Verletzlichkeit, sondern um das drohende Zerbrechen dessen, was ich glaube zu sein, meiner Identität. Menschen haben sich in der Geschichte lieber töten lassen, als dieses Selbstbild – z. B. ihren Glauben, ihre Zugehörigkeit, ihre Identität – preiszugeben. Diese Scham könnte offenbaren, dass das Bild, das ich von mir habe, eine Konstruktion ist. Und dieses Eingeständnis kann als Bedrohung empfunden werden, die größer ist als der Tod.
Ein spiritueller Weg!
Identitätsscham als Tor zur Transzendenz
Nach über 30 Jahren Begleitung von Menschen erkenne ich immer deutlicher: Scham ist nicht nur ein Hindernis, das es zu überwinden gilt. Sie ist ein Schlüssel. Je tiefer ich mich auf Scham einlasse – auf allen Ebenen – desto mehr beginnt sich etwas in mir zu weiten.
Wenn ich innerlich JA zu meiner Scham sage, besser sogar Ja empfinde, wenn ich mich mit meinen negativen Selbstwertüberzeugungen nicht mehr ablehne, entsteht augenblicklich Friede. Wie kann man JA empfinden zu seiner eigenen Scham? Tatsächlich haben die inneren Bewertungen nichts mit dem zu tun, was ich in der Tiefe meines Seins wirklich bin. Es sind nur subjektive Werturteile. Wenn wir es schaffen, mit der Abwehr gegenüber dem Gefühl von Minderwert in Frieden zu kommen, wenn wir als nächsten Schritt, den Minderwert nicht mehr ablehnen, entsteht immer mehr Freiheit.
Am eindrücklichsten zeigt sich das auf der fünften Ebene: der Identitätsscham.
Was ist Identitätsscham?
Es ist die Scham, die auftaucht, wenn mein gesamtes Selbstbild bedroht ist. Nicht nur mein Ansehen, nicht nur mein Körper oder mein Verhalten – sondern meine gesamte Vorstellung davon, wer oder was ich bin. Diese Scham zeigt sich oft existenziell: als ob ich sterben müsste, wenn ich sie wirklich zuließe. Nein, noch schlimmer. Oft entscheiden sich Menschen lieber zu sterben oder zu töten, als sich dieser absoluten Wertlosigkeit zuzuwenden. Sie ist mit einem extremen inneren Widerstand verbunden, weil sie genau das infrage stellt, was das Ich aufrechterhält – die Illusion von Stabilität, Kontrolle, Kohärenz. Um es vielleicht noch ein bisschen drastischer und damit realistischer sichtbar zu machen: Diese damit auftretenden Gefühle sind subjektiv absolut unaushaltbar. Sich diesem Gefühl bewusst zuzuwenden ist der Schlüssel. Aber wie gesagt, eigentlich gibt es in mir die größte Abwehr, die man sich gegen irgendetwas vorstellen kann. Wenn es einem gelingt, dieses (nahezu) unaushaltbare Gefühl zu erkennen, ist man schon sehr weit in der Toleranz fortgeschritten. Der nächste Schritt ist für die meisten Menschen allerdings ohne Begleitung kaum zu realisieren.
Was geschieht, wenn ich mich dieser Scham nicht länger entziehe?
Wenn ich mich hinein entspanne, anstatt sie abzuwehren, passiert etwas Unerwartetes: Es wird weiter. Etwas öffnet sich. Es entsteht Raum. Das Ich – das sich sonst als Zentrum meiner Erfahrung gibt – wird durchlässiger. Es wird transparenter, luftiger. Nicht, weil ich es absichtlich auflöse. Sondern weil es sich von selbst zu lockern beginnt, wenn ich nicht mehr krampfhaft daran festhalte.
Das Paradoxon des Ichs
Das Ich kann sich nicht selbst auflösen. Es kann diesen Schritt nicht tun – weil es ja gerade das ist, was sich behaupten will. Aber es kann sich auflösen lassen. Und allein die Bereitschaft dazu ist schon Ausdruck einer Öffnung. Diese Öffnung ist kein Akt des Willens, sondern eine Gnade der Hingabe. Es geschieht nicht durch Kontrolle, sondern durch Erlaubnis.
Was bleibt, wenn das Ich geht?
Nichts im gewöhnlichen Sinn. Kein neues Selbst, kein höheres Ego, keine andere Identität. Was bleibt, ist ein Prozess – lebendig, wach, aber ohne Zentrum. Kein fester Punkt mehr, der „Ich“ sagen kann. Stattdessen: Bewusstheit. Bewegung. Präsenz.
Stattdessen bewegen wir uns weiter in unserer gewohnten Umgebung, tun was getan werden will, sind in Beziehung und entspannt. Wenn es nichts mehr zu verteidigen gibt, entspannt sich alles. Du wirst so freundlich von anderen Menschen behandelt, wie es Dir nie zuvor im Leben geschehen ist. Wilde Tiere wenden sich Dir zu, ohne Angst vor Dir zu haben. Das Leben fließt.
Und Scham?
Sie bleibt nicht als Problem, sondern verwandelt sich. Aus etwas, das ich unbedingt vermeiden wollte, wird etwas, das ich anerkenne – vielleicht sogar ehre. Denn sie war der Wegweiser. Sie hat das Tor bewacht.