Die Psychosomatik der Kurzsichtigkeit kann man sehr erfolgreich in der Psychotherapie nutzen!
Mit dem Sehen und der Fehlsichtigkeit ist das so eine Sache! Einerseits wollen wir alles sehen und, was noch wichtiger ist, wir wollen gesehen werden. Andererseits wollen wir uns aber auf keinen Fall mit unseren Schwächen, manchmal auch Stärken, zeigen. Wie können wir mit allem was uns ausmacht von unseren Liebsten angenommen werden, wenn die nicht alles was uns ausmacht sehen dürfen. – Schwierig!
Ich frage mich, was es mit der Fehlsichtigkeit auf sich hat. Manche Menschen sehen in der Ferne nicht gut, andere in der Nähe. Manche Menschen sahen früher in der Ferne und Nähe gut; doch jetzt macht die Nahsicht schlapp. Bei wieder anderen gibt es beides: Sie konnten früher ohne Brille nicht scharf sehen und können jetzt trotz Brille in der Nähe nicht mehr scharf sehen.
Worum geht es überhaupt mit der Fehlsichtigkeit? Ist das eine Krankheit? Doch was ist dann Krankheit überhaupt? Ist man krank wenn man gekränkt wird? Oder ist krank sein einfach ein Normalzustand? Es gibt ja inzwischen eine riesige Forschung im Bereich von Psychosomatik. Das ist die Lehre über die Zusammenhänge zwischen psychischen Erscheinungen und dem Körper und seinem Ausdruck und den entsprechenden Phänomenen.
Na ja, in den allermeisten Fällen gibt es bei einem Beinbruch eine Schiene, einen Gips, so dass der Knochen wieder zusammen wächst, also in den Originalzustand zurück kommt. Bei den allermeisten Krankheiten versucht der Arzt zumindest den früheren Zustand wieder herbeizuführen. Wie die Erfolge darin sind wissen wir alle. Oft gelingt es (irgendwie), manchmal nicht.
Und bei der Fehlsichtigkeit?
Bleiben wir doch noch mal beim Beinbruch. Wie wäre es, wenn der Arzt sagt: „Ihr Bein ist gebrochen. Und sehen Sie mal, hier ist eine Unterarmgehstütze. Die können Sie jetzt Ihr Leben lang nutzen. Gut, dass wir so etwas anbieten können, nicht wahr?“
Wie würden Sie reagieren?
Wenn wir genau hin-sehen, erkennen wir, dass eben das von den Augenärzten in aller Regel (mit Ausnahmen) gemacht wird. Wir bekommen eine Sehkrücke, bei Kurzsichtigkeit in der Jugend vielleicht mit einer Dioptrienzahl von – 0,5. Und siehe, ein Jahr später haben wir schon wieder eine schlechtere Sicht und wir bekommen eine stärkere Krücke, mit vielleicht -1,25 Dioptrien. In aller Regel geht das jetzt weiter bis um das 30. Lebensjahr herum. Bei manchen hört die Verschlechterung früher auf, bei sehr wenigen geht sie weiter.
Wieso ist das so?
Bevor wir näher auf diese Frage eingehen, könnten wir registrieren, dass, wenn es sich bei der Kurzsichtigkeit oder Weitsichtigkeit um eine Krankheit handelt, der Arzt sie sehr oft lediglich verwaltet und gewissermaßen eine Krücke verordnet.
Wie wäre es, wenn wir mal annähmen, dass Krankheit durch Kränkung entsteht und das auch für Kurzsichtigkeit oder Weitsichtigkeit (oder Astigmatismus) der Fall ist.
Wie wäre es, wenn ein kleines Kind ständig von der Mutter oder einem älteren Geschwister bedrängt wird. Manche Mutter (oder Vater) lässt seinem Kind kaum einen Bewegungsraum oder im wahrsten Sinne, einen SPIELraum. Wie kann ein Kind mit so etwas, was man heute Overprotecting nennt, umgehen?
Was soll es machen, damit es dennoch irgendwie Freiheit erleben kann? Wie könnte eine intelligente Reaktion aussehen? Wenn mir ständig jemand auf der Pelle hängt, versuche ich anders Abstand zu bekommen. Ich schalte meine Wahrnehmung runter, fühle nicht mehr so gut, schaffe mir mit Körperfett eine neue, dickere Grenze, mehr Abstand, oder ich werde vielleicht weitsichtig.
Der Vorteil in der Weitsichtigkeit ist: ich sehe alles was mir sehr nah ist, nicht mehr scharf. So muss ich nicht mehr alle Andeutungen, Ängste und Sorgen, die sich sonst in den Augen meines mir zu nahen Gegenübers ausdrücken, sehen.
Wir sind mit besonderen Fähigkeiten ausgestattet was das Erkennen von Emotionen im Gesicht anderer Menschen angeht. Insbesondere in der Augenregion erkennen wir fast alles. Sei es Stress, Angst, Depression, Wut, Trauer oder vieles mehr. Schauen Sie in die Augen Ihres Gegenübers und Sie sehen was bei ihm oder ihr los ist.
Natürlich haben wir diese Fähigkeit als eine soziale Notwendigkeit von der Natur mitbekommen. Wir sind auf soziale Kontakte so sehr angewiesen, wie sonst fast kein anderes Tier. Das heißt, die Fähigkeit alles aus dem Gesicht unserer wichtigsten Bezugspersonen heraus zu lesen, ist sehr notwendig für unser angemessenes Leben in Gemeinschaft.
(Auch die Stimme gehört dazu. Auch sie verrät uns fast alles über unser Gegenüber. Liegen da vielleicht Ursachen für Schwerhörigkeit?)
Ein Beispiel, wie oben schon ein bisschen angedeutet. Als Kind erlebe ich z. B. eine depressive Mutter, die sich kaum oder gar nicht gut um sich selbst kümmern kann. Es wird sicher gute Gründe für die Depression der Mutter geben, doch hier geht es zuerst einmal um das Erleben des abhängigen Kindes.
Was passiert in einem Kind, wenn es eine Mutter hat, die sich nicht mit offenem Herzen und Augen um es kümmern kann? Wie wird es sich fühlen? Kann es sich nach einer Weile überhaupt noch fühlen? Oder ist das nicht alles zu viel?
Es wird zuerst versuchen, es der Mutter in allen Belangen recht zu machen. Es wird versuchen, der Mutter das Leiden zu verringern. Warum? Nicht zuletzt darum, weil es die Mutter dazu braucht, dass sie sich um es kümmert. Die nur selten bewusst wahrgenommene Absicht des Kindes ist: Ich kümmere mich um Dich, damit es Dir besser geht und dann kannst Du dich endlich um mich kümmern (so wie es ja eigentlich von der Natur her vorgesehen ist).
Was geschieht, wenn das Kind es nicht schafft der Mutter das Leiden zu nehmen? Es wird sich vermutlich zuerst einmal noch mehr anstrengen und es dennoch versuchen. Doch es klappt nicht, denn die Mutter ist ihrerseits vermutlich verletzt oder vielleicht sogar traumatisiert und das Kind kann sie nicht heilen.
Welche Möglichkeiten hat das Kind jetzt?
Es härtet sich ab, ähnlich wie bei der Weitsichtigkeit oder es wird zuerst einmal kurzsichtig. Es schafft Distanz zwischen dem, was es immer sehen muss und sich selbst. Das ermöglicht dem Kind das Leiden der Mutter nicht mehr in jeder Sekunde mitzukriegen.
Es ist eine für das Kind in der Situation sehr intelligente (Teil-) Lösung. –
Doch leider hilft sie nicht sehr gut. Während bei der Weitsichtigkeit größere Spielräume in den Augen liegen, das heißt, dass größere Sehschwierigkeiten in der Weitsichtigkeit durch Anstrengung ausgeglichen werden können, geht das bei der Kurzsichtigkeit nicht besonders gut. Die Folge: Wenn das Kind schon zur Schule geht und die Tafel nicht mehr gut erkennen kann, bekommt es eine Brille. Was bedeutet, dass die ganze unbewusste Intelligenz mit der Kurzsichtigkeit für die Katz ist. Denn welcher Lehrer, welche Mutter oder Vater, welcher Augenarzt oder Optiker, welcher Psychologe weiß denn schon bescheid über die Psychosomatik der Fehlsichtigkeit?
Nichts desto trotz, die einmal eingeschlagene Richtung unseres Unterbewusstseins führt sich weiter fort. Nach einem Jahr geht es erneut zum Augenarzt und eine stärkere Brille wird verordnet.
Und so weiter, wie oben bereits erwähnt. Tja, aber damit ist ja das Problem des Kindes nicht gelöst.
Es ist jetzt wieder der vollen Konfrontation ausgesetzt, die es mit der Depression der Mutter erlebt. (Natürlich kann es eine große Menge von Umständen geben, die die Schutzintelligenz des Kindes zur Kurz- oder Weitsichtigkeit anregen.)
Nun startet in vielen Fällen der Sekundärprozess. Der kann folgendermaßen aussehen. Neben dem, dass das Kind weiterhin immer kurzsichtiger wird, muss es noch andere abgrenzende Symptome entwickeln. Es gibt natürlich nahezu unendlich viele Möglichkeiten. Ich werde hier nur ein paar weitere Kompensationen aufführen.
Das könnte ich jetzt in verschiedenen Symptomen unterschiedlich weiter ausführen. Ich will es hier einmal bewenden lassen.
Es kann tausend Gründe für Fehlsichtigkeit geben. Hier sind nur einige Beispiele aufgeführt. Und natürlich gibt es genetische Prädispositionen, die ebenfalls eine Rolle spielen können. Doch hier kommen wir der Epigenetik sehr nahe. Der Lehre von der Vererbung von Erfahrungen und Trauma. Inzwischen gibt es gesicherte Untersuchungen darüber, dass Trauma Gene verändert und diese weiter vererbt werden.
So kann es natürlich auch mit der Fehlsichtigkeit sein.
Übrigens kann man in bestimmten Regionen der Erde besonders viele Menschen mit Fehlsichtigkeit beobachten. Die Bewohner fast aller asiatischen Länder sind fehlsichtig, die meisten kurzsichtig. Wieso ist das so? – Und in Lateinamerika sind es überdurchschnittlich wenige Menschen, die fehlsichtig sind.
Dazu möchte ich im Moment nichts weiter sagen, sondern mich mehr den Erkenntnissen, die aus diesen Beschreibungen erwachsen, zuwenden.
Was bedeutet das für die Psychotherapie? Was passiert mit Menschen, die sich ihre Augen lasern lassen? Ist es überhaupt sinnvoll das zu tun?
Eines kann man an dieser Stelle schon mal sagen: Nach dem Lasern besteht vorerst einmal keine Möglichkeit mehr, die Brille abzulegen. Es gibt nicht mehr die Chance auf das Scharfsehen zu verzichten, sowie es die unbewusste Intelligenz ja einmal vorhatte. (Allerdings könnte man eine Plusbrille aufsetzen und hätte einen sehr ähnlichen Effekt.) Während andere Menschen das weiterhin könnten und sich damit die Möglichkeit eröffnen in einen früheren Gefühlszustand hinein zu gehen. Eine Gefühlswelt, die sie vielleicht schon Jahrzehnte nicht mehr erlebt haben, kann sich jetzt wieder eröffnen und so der Heilung zugeführt werden.
Aus den obigen Beschreibungen können wir entnehmen, dass es sich nicht nur um einen Prozess handelt, wenn wir uns der Fehlsichtigkeit zuwenden, sondern um mehrere, die oft durch verschiedene Zwischenstufen sehr verschachtelt sind.
Der primäre Prozess ist der unbewusste Versuch durch Kurz- oder Weitsichtigkeit den Einschränkungen unserer Entwicklung durch äußere Umstände ein Stück weit zu entgehen.
Da wir ja dann eine Brille verpasst bekommen, müssen wir uns einer anderen Strategie zuwenden. Natürlich erfolgt das auch in der Regel unbewusst. Damit beginnt der sekundäre Prozess.
Wenn wir dann zum Beispiel dick werden, um uns vielleicht auf diese Weise abzugrenzen, und dann alles mögliche tun, um wieder dünn zu werden, haben wir einen terziären Prozess. So kann es immer weiter gehen.
Die Frage ist, ob wir dann in der Psychotherapie zuerst beim letzten Prozess anfangen müssen oder ob wir vielleicht gleich mit der Arbeit an der Fehlsichtigkeit beginnen können?
Sehr oft, wenn das Thema Fehlsichtigkeit in unserer Kultur auf den Plan kommt, steht dabei die Wiederherstellung der vollen Sehfähigkeit auf dem Programm. Und das verstehe ich persönlich sehr gut, weil das auch meine Motivation war, mich mit diesen Themen zu beschäftigen.
Doch wenn wir, ob bewusst oder unbewusst, etwas aus für uns existenziellen Gründen nicht sehen wollten, ist das weiterhin von Bedeutung. Sehr oft passiert in dem Augenblick schon eine Veränderung, wenn ich als Fehlsichtiger mir erlaube zu sagen, dass das, was ich sehe mir Angst macht. Dazu brauche ich oft nicht einmal eine konkrete Sache, die mir Angst macht.
Wenn ich also aus Angst oder Unsicherheit (bisher unbewusst) nicht scharf sehe (-n will), dann nützt es mir nichts dagegen vorzugehen. Alles was ich in mir ablehne kriegt ja ständig Energie. Ablehnung von einem Gefühl in mir erfordert eine Anstrengung, vermutlich meist auch unbewusst, die ständig eine Energie aus meinem Gesamtsystem zieht, ein ständiger stiller Verbraucher. Und was nützt es mir, wenn ich auf bewusster Ebene, welche maximal 10 % unseres Gesamtbewusstseins ausmacht, wieder scharf sehen will, aber, sagen wir mal, 60 – 70 % unseres Gesamtbewusstseins nicht scharf sehen wollen. Wieso? Weil dieser Teil ständig nach Heilung der ursprünglichen Verletzung strebt. Wenn dieser Persönlichkeitsanteil das Symptom gleich aufgeben würde, müsste er neue Möglichkeiten der Kontaktaufnahme mit dem Alltagsbewusstsein entwickeln. Das Unbewusste ist ständig bestrebt, Heilung herbei zu führen. Jede Verletzung oder Kränkung, die wir je erlebt haben, wartet ständig darauf, wieder geheilt zu werden. Es braucht allerdings, und darauf wartet es, dass jemand das sieht.
Wie geht es dann weiter?
Für einen Heilungsschritt benötige ich zuerst einmal die Möglichkeit zu erkennen, dass ich aus einem guten Grund fehlsichtig geworden bin und dass der Grund zwar möglicherweise für mich als Erwachsenen jetzt keine große Rolle mehr spielt, aber mein inneres Kind immer noch leidet. Für das innere Kind spielt es vermutlich immer noch eine große Rolle. Ich gehe davon aus, dass wir emotional partiell immer noch in dem gleichen Stadium sind, wie zu dem Zeitpunkt, als der Rückzug ins weniger scharf Sehen begann.
(Hier werde ich bald weiter schreiben, doch bis jetzt erst einmal so viel)
https://hellerweg.de/index.php/fehlsichtigkeit-in-der-psychotherapie/