Wir leben in einer Welt, in der wir uns innere Bilder von der Zukunft machen und gemacht haben, die sehr stark unsere Gefühle und unser Denken steuern. Oft denken wir, die Vergangenheit hätte anders gewesen sein sollen. Denn die von uns gemachten inneren Bilder werden unweigerlich eines Tages erschüttert oder zerstört. Diese loszulassen erscheint uns manchmal unmöglich. Unsere Zukunft z. B. mit diesem anderen Menschen, unserer Partnerin, unserem Ehemann, scheint in unserem inneren Empfinden in Stein gemeisselt zu sein. – Können wir auch davon loslassen?
Wovon spreche ich hier?
Eines Tages erfuhr ich, dass eine frühere Liebespartnerin gestorben war. Ich hatte sie sehr gemocht. Vor ca. 15 Jahren hatte ich den letzten Kontakt zu ihr. Und in dem Moment, als ich von ihrem Tod erfuhr durchströmte mich augenblicklich tiefe Trauer. Die Tränen liefen, ich konnte nicht fassen, dass sie tot sein sollte. Die Nachricht kam in einem geschäftlichen Gespräch und ich spürte die Tränen und entschied mich, mich später um mich zu kümmern.
Nachdem das Gespräch beendet war, war mir im Moment klar, dass ich zu ihrer Mutter fahren würde, da ich gerade in deren Ort zu tun hatte.
Wir hatten uns während der Beziehung mit meiner früheren Partnerin nur ein paar Male gesehen. Ich hatte kaum noch Erinnerung daran ob wir je einen tieferen Kontakt hatten. Mein Klingeln ließ sie öffnen. Auf die Frage, ob sie wisse wer ich sei antwortete sie mit: „Ulli?” (Anmerkung: ich heiße Ulrich Peter)
Nickend schaute ich sie an. Sie bat mich herein und unter Tränen beschrieb ich ihr, dass ich es gerade erfahren habe. Sie nahm mich in den Arm und ließ mich weinen.
Wir nahmen uns dann an den Vormittag die Zeit und sie erzählte mir die ganze Leidens- und Freudengeschichte der Krankheits- und Sterbebegleitung an der Seite ihrer Tochter.
Ich weinte immer wieder bei den Bildern, die von meiner früheren Geliebten in meinem Kopf entstanden. So nach und nach konnte auch ein anderer Anteil in mir akzeptieren, was mein Herz sofort verstanden und betrauert hatte.
Während dessen, die Trauer spürend, beobachtete ich immer wieder meine inneren Reaktionen. Ich wunderte mich über mich. Die Beziehung war doch schon 16 Jahre her. Was brachte mich zu dieser starken Trauerreaktion? Gleichzeitig spürte ich totale Stimmigkeit. Diese Frage war kein Ausdruck von Ablehnung, sondern eher eine danach zu erfahren wie ich funktioniere. Ich wollte nichts verändern, nur verstehen. Ich fühlte mich mit meiner Trauer sehr im Reinen.
Ich fragte mich, wie Trauer entsteht und wie sie funktioniert.
Im Gespräch mit der Mutter wurde mir klar, dass meine frühere Partnerin und ich damals nicht in der Lage gewesen waren uns in Stimmigkeit zu trennen. Wir stellten nur fest, dass wir uns zwar mochten, liebten, aber einfach nicht zusammen passten. Wir hatten zu unterschiedliche Vorstellungen von der Welt.
Tief im Inneren meiner nicht täglich bewusst zugänglichen Erinnerungen war ein Bild von einer hübschen, großen, blonden, lächelnden Frau gespeichert, die ich sehr mochte, doch mit der ich nicht sein konnte. Diese Beziehung war anscheinend innerlich noch nicht ganz beendet. Ich weiß, dass ich mich einige Zeit nach der Trennung noch einmal an sie gewandt habe. Doch ich bekam keinen Kontakt und keine Antwort. Ich ließ es auf sich beruhen. Es war klar, sie wollte keinen Kontakt mehr.
Vielleicht hing meine jetzt so starke Trauer mit der nicht abgeschlossenen Geschichte zusammen?
Sicher ist jedoch, dass ich Vorstellungen in meinem Kopf von ihrem weiteren Leben hatte, auch wenn diese nicht sehr differenziert oder konkret waren. – Dass sie gestorben sein könnte, gehörte nicht zu diesen Vorstellungen.
Sie zerbrachen in dem Moment, als ich von ihrem Tod hörte. Es gab keine Zukunft mehr für diese Vorstellungen. Sie war tot.
Hatte ich Mitleid? – Sie litt ja nicht mehr! Kann man Mitleid für jemanden empfinden, der schon seit 7 Jahren tot ist? Oder vielleicht Mitgefühl? Mit wem habe ich dann Mit-gefühl? – Mit dem Bild, welches ich von der Person habe? Mit mir, der ich gerade das Leid spüre? Oder hatte ich gar kein Leid, weil ich die Trauer einfach so annahm, ohne mich dagegen zu wehren?
Ihre Mutter und ich fuhren gemeinsam zum Grab ihrer Tochter und ich verabschiedete mich innerlich. Mir ging es ähnlich wie ihrer Mutter. Das Grab war nur ein Symbol für das Leben der Tochter. Diese mir einmal so nah stehende Person hatte jetzt nicht wirklich etwas mit dem Grab zu tun. – Hatte es sie wirklich einmal gegeben?
Jetzt war sie jedenfalls nur ein Produkt meiner Erinnerungen!
Ihre Mutter und ich gingen so sehr im Frieden nebeneinander her, als hätte uns nie irgendetwas getrennt. Wir waren wie Partner, so vertraut, so im Frieden, tief berührt und doch frei von Vorstellungen.
Ich nahm mir den Tag und auch die nächsten, um die immer wieder auftauchenden Erinnerungen an diese mir früher nahestehende Frau zu spüren, zu beobachten und wieder loszulassen.
Es war schön, diese Trauer zu spüren und noch einmal die Erinnerungen aufsteigen zu lassen. So nach und nach ebbten die Erinnerungen und auch die Trauer mehr und mehr ab.
In diesen Tagen habe ich verstanden wie Trauer entsteht und was in ihr passieren kann. Auch wenn wir nicht aktiv in unseren Gedanken Bilder von der Zukunft erschaffen, entstehen sie doch automatisch. Wir können gar nicht mit vollem Bewusstsein alle uns irgendwann ereilenden Ereignisse voraussagen. Nicht einmal annähernd sind wir dazu in der Lage. Weil wir aber innerlich mit so viel Ungewissheit nicht umgehen können oder wollen, schafft unser Gehirn im Denken eine Alternative zur Realität (von der es ja oft nichts weiß, wie in meinem Fall mit der früheren Freundin). Es geht also in einer in unserem Verstand hintergründig laufenden Vorstellung davon aus, dass alles wie gewohnt weiter läuft.
Wird eine solche hintergründige oder auch vordergründige innere Vorstellung zerstört, entsteht augenblicklich Trauer. Das ist eine angemessene und normale Reaktion, so lange es keine Widerstände dagegen gibt. Sobald es eine Instanz in uns gibt, die nicht einverstanden ist mit dem, was sich als Realität zeigt, nennen wir das Widerstand. Wir sind dann nicht in der Übereinstimmung mit der Wirklichkeit und dann auch nicht in der reinen Trauer.
Reine Trauer macht keinen Ärger, keine Wut und auch keine Resignation. Reine Trauer ergießt sich lösend in die gleichzeitig auftauchende Hilflosigkeit und fließt einfach durch. Reine Trauer hinterlässt keine Schatten. Sie ist heilend und sättigend. Sie ist friedenstiftend. Und sie macht die Situation vergessen. Sobald die reine Trauer abgeklungen ist, ist das worüber ich traurig war, ohne Energie. Ich bin frei von der alten Vorstellung; ich bin nicht mehr innerlich gezwungen, daran festzuhalten. Ich bin ein-verstanden. Es gibt nur einen Verstand in mir und nicht zwei oder mehr. Ich bin in Liebe mit mir und im Einklang mit der Welt.
Peter Hellwig, Heilpraktiker für Psychotherapie, Gestalttherapeut, Familienaufsteller, Paar- und Einzeltherapie, Ausbildung, Supervision, Göttingen, 2007