Es gibt in uns allen etwas, das man „Ich“ nennt. Dieses Ich ist das Bild, das wir von uns selbst haben: wie wir heißen, was wir erlebt haben, wie wir fühlen und denken – unsere Persönlichkeit.
Aber dieses Ich ist nicht einfach da – es entsteht. Und zwar meist dort, wo wir Trennung erlebt haben.
Schon sehr früh, manchmal schon vor der Geburt, spüren wir: Etwas stimmt nicht. Die Verbindung zur Mutter, zur Welt, zum Leben ist nicht da, wie sie eigentlich sein sollte.
Vielleicht war die Mutter selbst überfordert, gestresst oder traurig. Das Kind fühlt diese Spannung – und lernt, sich anzupassen. Es trennt sich innerlich ab, um zu überleben.
Aus dieser Trennung entsteht das erste „Ich“ – ein Gefühl von:
„Ich bin allein.“
„Ich bin falsch.“
„Ich bin der Schmerz.“
Und dieses Ich trägt das Kind durchs Leben.
Es hilft ihm, klarzukommen. Aber es kostet Kraft, weil es ständig dafür sorgen muss, sich selbst zu bestätigen: durch Leistung, durch Kontrolle, durch Rechthaben oder Rückzug.
Im Innersten wissen wir oft:
„So bin ich gar nicht wirklich.“
Doch weil wir keine andere Erfahrung kennen, halten wir fest.
Und genau hier beginnt der Weg zurück:
Wenn wir beginnen zu bemerken, „Ich bin traurig“ – statt „Ich bin die Traurigkeit“…
Wenn wir einen Moment still werden und spüren, dass da etwas Tieferes in uns ist…
…dann entsteht Raum.
Nicht sofort – aber langsam.
Gefühle dürfen da sein, ohne uns zu überrollen.
Gedanken kommen – und gehen.
Und wir bleiben. Nicht als Ich, sondern als Bewusstsein, das all das erlebt.
Wir müssen weniger kämpfen. Mit uns selbst, mit anderen.
Wir brauchen nicht mehr Recht haben. Wir dürfen einfach da sein.
Wir fühlen uns verbundener mit dem Leben – ohne dass wir das machen müssten.
Und wir beginnen, anderen Menschen wirklich zu begegnen – nicht aus dem Ich heraus, sondern aus dem, was wir wirklich sind.
Wenn das Ich sich zu lösen beginnt, kommt oft die Scham hoch.
Scham dafür, dass wir so lange anders waren.
Scham für unsere Masken, unsere Schutzstrategien.
Diese Scham ist kein Feind – sie ist ein Tor.
Wenn wir sie fühlen dürfen, ohne sie zu verstecken, entsteht Tiefe.
Echtheit. Mitgefühl – für uns selbst und für andere.
Das Ich muss nicht bekämpft werden. Es darf einfach weniger wichtig werden.
Und aus dieser Freiheit entsteht etwas, das nicht neu ist – aber ewig:
Verbundenheit. Stille. Frieden.
Recht haben müssen
– Das Ich fühlt sich nur sicher, wenn seine Sichtweise bestätigt wird. Es kämpft um Wahrheit, nicht aus Interesse – sondern aus Angst.
Die eigene Meinung als absolute Realität ansehen
– Nicht: „Ich sehe das so“, sondern: „So ist es.“
Es fehlt die Offenheit, dass andere Menschen ebenso gültige Perspektiven haben könnten.
Misstrauen – oft unbewusst
– Viele glauben, sie vertrauen – doch innerlich halten sie Kontrolle, werten ab oder ziehen sich zurück.
Das tiefere Gefühl lautet oft: „Ich kann mich niemandem wirklich anvertrauen.“
Kontrolle statt Hingabe
– Das Ich will planen, erklären, verstehen – weil es Angst hat, sich dem Leben zu überlassen.
Vermeidung von Scham
– Scham ist eine Bedrohung für das Selbstbild. Das Ich versucht alles, um nicht bloßgestellt zu werden – und verliert dabei den Kontakt zu Echtheit.
Rollenhaftigkeit
– Das Ich zeigt sich in erlernten Rollen: stark, klug, lieb, spirituell, kompetent…
Dahinter liegt oft Angst vor Ablehnung oder Bedeutungslosigkeit.
Vergangenheit und Zukunft statt Gegenwart
– Das Ich lebt selten im Jetzt. Es hängt an alten Geschichten oder erschafft Zukunftsszenarien – aber es ruht nicht.
Vergleich mit anderen
– Das Ich orientiert sich ständig im Außen: „Bin ich besser, weiter, richtiger?“
Es kann schwer einfach nur „sein“.
Fassadenhafte Spiritualität
– Auch der spirituelle Weg kann zur Ich-Verteidigung werden: „Ich bin weiter“, „Ich habe erkannt“…
Es schützt sich durch feine, scheinbar edle Abgrenzung.
Unfähigkeit zur echten Nähe
– Wahre Nähe braucht Offenheit. Doch das Ich will sich schützen – also bleibt der andere draußen, auch wenn man körperlich oder verbal verbunden scheint.
Wenn ein Mensch beginnen darf, sein Misstrauen zu spüren und auszusprechen, ohne verurteilt zu werden,
entsteht eine Öffnung.
So wie du es beschreibst:
Nicht Vertrauen „machen“, sondern ehrlich sein über das Misstrauen.
Und genau darin liegt die Kraft:
Der Anfang von Beziehung – nicht trotz Misstrauen, sondern durch das Anerkennen des Misstrauens.