Die Lebensmitte und ihre Chancen! (veröffentlicht im Mai 2010 im Ginkgo-Magazin)

Wer bin ich, jetzt 52 Jahre alt? Ich, Mann, Vater, Freund und Geliebter, heilpraktischer Psychotherapeut, Sportler, Familienaufsteller, habe meine Jugend hinter mir. Die Jugend, die in unserer Gesellschaft scheinbar alles repräsentiert. Ein echtes Lebensgefühl hat man nur in der Jugend, suggerieren die Werbung und fast alle Medien. Der Lack ist sozusagen ab. Als Zwanzigjähriger konnte ich mir kaum vorstellen, wie es sei, 50 Jahre alt zu sein. Ich vermutete, das Leben sei dann eigentlich vorbei. Doch wie lebt es sich mit Anfang 50 wirklich?

Was ich persönlich am meisten schätze, ist, dass ich nicht mehr (ganz so) cool sein muss. Wenn ich junge Leute sehe, habe ich den Eindruck, dass einige sehr viel Stress auf sich nehmen, frieren und sich anstrengen müssen, um einen coolen Eindruck bei ihren Altersgenossen zu vermitteln. Ich, in meinem Alter, kann auch offener, ehrlicher sein, muss mir selbst und anderen nicht mehr so viel vormachen. Mein Selbstbild ist im Laufe der Jahre einige Male in sich zusammen gebrochen. – Es hat mir gut getan! Das Leben ist leichter geworden. Einige Vorstellungen von mir sind in den Feuern so mancher Krise, die das Leben mit sich brachte, ordentlich verkokelt. Wenn es sich innerhalb so einer Krise, vielleicht ausgelöst durch partnerschaftliche oder finanzielle Probleme, auch äußerst unangenehm anfühlt, so erfahren wir danach im Laufe der Zeit eine größere Gelassenheit. Was früher ernsthafte Probleme waren, sind heute „nur“ Herausforderungen, die angegangen werden wollen. Haben wir die 2. oder 3. Lebenskrise gemeistert, ist es wirklich so, – wir werden zu Meistern des Lebens. Wir machen die Erfahrung, dass auch sehr schwierige Lebenssituationen im Nachhinein keinen Verlust, sondern eher einen Gewinn darstellen. Denn wir erkennen: „DAS LEBEN GEHT WEITER!“ oder „AUCH DAS GEHT IRGENDWANN VORBEI!“ Und nicht Resignation regiert unser inneres Sein, sondern Gelassenheit.

Vielen Menschen ist die Lebensmitte geprägt von der „Midlife-Crisis“, wie es neudeutsch inzwischen heißt. Die Zeit zwischen 40 und 55 zeichnet sich aus durch Veränderungen. Die Kinder gehen ihrer Wege. Als Hausfrau und Mutter stehen völlig neue Herausforderungen an (die ich mich als Mann nicht zu beschreiben berufen fühle). Aber auch wir Männer sind gefordert. Ist unser Beruf, unser Job wirklich die Lebenserfüllung? Sind wir schon unserem Sinn des Lebens begegnet? Was ist der Sinn des Lebens? – Wie ist es mit wirklich erfüllender Partnerschaft? Sind wir in dieser Beziehung glücklich? Dürfen wir das nach vielleicht 25-jähriger Beziehung überhaupt fragen? Dürfen wir unsere Beziehungsempfindungen ernst nehmen und damit die Beziehung vielleicht in Frage stellen? Wir scheuen uns davor, zuzugeben, dass wir jüngeren Frauen nachschauen, sie attraktiv finden, vielleicht sogar attraktiver. Weshalb trauen wir uns oft sogar nicht einmal vor uns selbst, zuzugeben, dass wir Frauen, die weniger vom Zahn der Zeit gezeichnet wurden, anziehend finden? Vielleicht weil wir glauben, wir würden unsere Frau verletzen? Oder weil wir befürchten, wenn wir es uns selbst gegenüber zugeben, würden wir unsere Frau verlassen? Das könnte natürlich sein. Müssen wir uns dafür schämen, dass wir junge Frauen in gewisser Weise attraktiver finden, als ältere? Könnte es sein, dass dieses Empfinden tief sitzender Ausdruck des Fortpflanzungstriebes der Natur ist? – UND müssen wir dem folgen?

In meinen Eigenschaften als System- und Familienaufsteller und Therapeut erlebe ich in den allermeisten Fällen genau das Gegenteil. Das was wir als innere Empfindung vor uns selbst oder anderen verleugnen, verstärkt sich. Sobald wir uns erlauben, diesem Anteil in uns Raum zu geben, ihn kennen zu lernen und zu achten, lässt der Druck nach, dem nachgehen zu müssen. Können wir mit unserer Frau darüber reden, dass wir sie nicht mehr so attraktiv finden, wir noch vor 20 Jahren? Ja, warum denn nicht? Sie wird uns vermutlich sagen, dass auch wir mit unseren Bäuchen und schwabbeligen Oberarmen, nicht dem Traum ihrer schlaflosen Nächte entsprechen. Doch es kann etwas hinzukommen, was wir Männer oft nicht gleich erkennen. Unsere Frauen könnten sagen: „Es gibt Anderes, Wichtigeres, als das Äußere bei Dir! Ich liebe Dich, auch wenn Du nicht mehr so knackig bist. Unsere Beziehung ist mir wichtig! Du bist mir wichtig! Unsere gemeinsam erlebte Zeit ist mir wichtig!“

Als Männer denken wir in so einem Fall vielleicht, dass sich unsere Frau von uns abhängig fühlt und deshalb so spricht. Auch diesen Fall wird es geben. Und ein Partner, der sich abhängig fühlt, ist nicht besonders antörnend. Gut, eine abhängige Partnerin birgt eine Menge Sicherheit. Sie tut was Mann will und kümmert sich wie eine Mutter jetzt um uns, da die Kinder groß sind. Und das ist natürlich für uns Männer sehr bequem. Und genau darin liegt die Falle: Bequemlichkeit ist der größte Feind der Liebesbeziehung! Bequemlichkeit schließt Sicherheit und Kontrolle mit ein und vermeidet echte Lebendigkeit.

Viele von uns Männern haben die Erfahrung gemacht, dass wir eine gewisse Unbequemlichkeit erfahren, wenn sich unsere Frau nach einem anderen, attraktiveren Mann umschaut. Unsere Partnerin ist in diesem Moment nicht so an uns gebunden, man könnte sagen, nicht so abhängig von uns. So dass in uns eine Unruhe entsteht. Vielleicht animiert uns das, mal wieder mit einem Blumenstrauß nach Hause zu kommen.

Doch worum geht es hier wirklich?

Das mittlere Alter birgt ganz andere Möglichkeiten, als wir bisher wahrgenommen haben. Es beherbergt viel mehr Spannung, Attraktivität, Erotik und Lust, als wir oft glauben. Jetzt endlich können wir uns Zeit nehmen für echte tiefe Begegnung. Die Kinder stören nicht mehr. Der Hund ist inzwischen stubenrein. – Doch was uns fehlt, ist die innere Ruhe, die Gelassenheit und Neugier, unserem Gegenüber Neues zu entlocken:

„Wollen wir uns heute Abend einmal 2 Stunden Zeit nehmen, uns gegenüber setzen und uns anschauen, in die Augen schauen? Hast Du Lust, zu sehen, was passiert, wenn wir nicht den Fernseher anstellen oder Freunde besuchen? Hast Du Lust, zwischen uns einen leeren Raum entstehen zu lassen, indem wir beide nicht wissen, was gleich passieren wird? (Weil wir nicht einfach ins Bett gehen und unserem lang gelebten stereotypen Handlungen nachgehen?) Können wir vielleicht miteinander tanzen, völlig frei tanzen, mit ganz zarten Berührungen oder auch ohne? Kannst Du mich, – kann ich Dich anschauen, – wirklich anschauen? Jetzt wirklich sehen, ganz neu, alle Gedanken über Dich und an unsere Geschichte ruhen lassen? Wollen wir uns in echter Begegnung erlauben, uns verzaubern zu lassen, auch wenn es sich unsicher anfühlt?“

David Schnarch, Autor von „Die Psychologie der sexuellen Leidenschaft“, ist in den USA ein sehr erfolgreicher Paar- und Sexualtherapeut und auch hierzulande sehr angesehen. Er sagt, dass unsere Sexualität das Potential hat, gerade im Leben mit über 50 Jahren ganz neue Tiefen und sehr viel größere Befriedigung zu vermitteln, als in jungen Jahren. Ebenso vertritt er, sehr überzeugend dargestellt, die Ansicht, dass in längeren Beziehungen Probleme auftreten müssen. Sie sind notwendig zur eigenen Entwicklung. Denn das Leben ist auf Entwicklung ausgerichtet und hält nicht irgendwo an, jedenfalls nicht ohne auf uns entwicklungsfördernd einzuwirken. Sehr oft wollen wir diesen nächsten Wachstumsschritt nicht an uns heranlassen. Wir wollen lieber in unserer Wohlfühlkomfortzone verweilen, als uns in Unsicherheit den unkontrollierbaren Kräften der Lebendigkeit und Liebe auszusetzen. Wir wollen die Herausforderung, die vor uns liegt, (noch) nicht annehmen.

Ich sage Ihnen und mir: wenn wir diese Herausforderung nicht annehmen wird es anstrengender, als wenn wir sie annehmen würden. Denn die Wachstumsenergie wirkt weiter, auch wenn wir sie nicht an uns heranlassen wollen.

Halten wir es für möglich, dass manche Krankheiten oder anderes Ungemach uns ereilen, weil wir diesen Schritt nicht tun? – Wer weiß? Aufstellungen wirken da oft sehr erhellend.

Worum geht es in unseren Beziehungen an der schwierigen Stelle? Was wollen wir?

Wir wollen unsere alte bequeme Situation wieder haben und die Sicherheit, dass sie, dass er, bei uns bleibt! Aber es geht um etwas anderes! Es geht darum, uns selber weiter zu entwickeln, Konventionen und Alltagsroutinen in Frage zu stellen, auch wenn das für die Partnerin oder den Partner unbequem wird.

Es geht darum, zu erfahren, dass wir Angst haben vor dem Verlassenwerden und dass wir fast alles tun werden, um darüber die Kontrolle zu behalten, sogar selbst verlassen. Wenn ich meine Partnerin verlasse, behalte zumindest ich die Kontrolle, und nicht ich bin der Verlassene. Bin ich in der Lage, meiner Partnerin mehr Freiraum zu erlauben, sie unabhängig von mir werden zu lassen, ohne dabei in Panik zu geraten? Was ist das für ein starkes Bestreben in mir, so sehr die Kontrolle behalten zu müssen, meine Partnerin, so sehr in Abhängigkeit halten zu müssen? Ist das normal? Wenn „normal“ heißt, dass es üblich ist, dann ja. Aber ist das gesund? Eher nicht, denn wir können krank werden an dieser Stelle. Auch das kann ein unbewusster Versuch sein, die Partnerin unter Kontrolle zu bekommen. Wir appellieren unbewusst an ihren Versorgungstrieb als Mutter.

Die Ursachen sind wahrscheinlich vielfältig. Wir können sie in Familienaufstellungen erkennen, aber auch in der eigenen Biographie. Wer von uns ist als Säugling schon in der Weise versorgt worden, wie es die Natur für uns vorgesehen hat? Sind wir nach der Geburt so lange am Körper der Mutter (oder des Vaters) getragen worden, bis wir nicht mehr mochten? Hatten wir die Möglichkeit, immer wenn uns unsicher wurde, den Kontakt zur Mutter in Liebe und bedingungslosem Angenommensein herzustellen? Was geschieht mit einem gerade geborenen Säugling, wenn er in einen Raum ohne Kontakt zur Mutter kommt? Er erlebt zwangsläufig ein Ausgesetztsein. Denn er kann sich auf keinen Fall selbst helfen. Er kann sich auch nicht vorstellen, dass die Mutter in einer Stunde zurückkommt. Er hat kein Zeitgefühl. Jede Unterbrechung des Kontakts mit der Mutter oder anderen Menschen führt zu einem Gefühl des Verlassenseins mit Angst vor dem Tod. Nur so kann der Säugling es wahrnehmen. Erst mit der Zeit wird er erfahren, dass es ständig wieder jemanden gibt, der sich um ihn kümmert, wie auch immer.

Kann es sein, dass es sich um diese Angst in uns handelt, weshalb wir mit ungeheuerer Kraft versuchen, unsere Partnerin an uns zu binden? Könnte es sein, dass wir auf keinen Fall noch einmal so eine furchtbare Zeit des Ausgesetztseins erleben wollen? Ist das ein Grund dafür, dass wir unbedingt selbst entscheiden wollen was passiert, und uns lieber selbst trennen, als noch einmal die Bedrohung des Verlassenwerdens zu erleben?

Wenn wir an dieser Stelle der obigen Hypothese zustimmen, dann stellt sich die Frage: „Wie gehen wir jetzt damit um?“

Es gibt meines Erachtens nicht viele Möglichkeiten und um eines kommen wir nicht herum: Wir müssen uns dem Schmerz und der Angst stellen. Und das bedeutet, dass wir die Angst einladen müssen, da zu sein. Dass wir bereit sein müssen, ihr Wesen zu erforschen, sie wirklich kennen zu lernen. Wenn wir weiterhin davor weglaufen, werden wir uns vermutlich vereinsamt zurückziehen und frustriert sein oder wir versuchen, mit noch mehr Energie die Partnerin zu kontrollieren. Das wird sie aber nicht mögen.

Es bleibt nur das Aushalten der Angst und des Schmerzes. UND wir haben jetzt als Erwachsene die Möglichkeit, zu erkennen, dass wir nicht sterben werden, selbst wenn wir alle Emotionen zulassen. David Schnarch nennt diesen Prozess Differenzierung. Es geht darum, mit seiner eigenen Angst selber fertig zu werden und nicht den Partner oder die Partnerin (jeweils als Mutterersatz) dazu zu benutzen. Wie dieser Prozess im Einzelnen weiter geht, ist hier nur unzulänglich zu beschreiben, denn jeder Mensch ist an dieser Stelle gefordert, seine eigene Weise des Umgangs damit, selbst zu erforschen. Eines ist klar, wenn wir uns nicht unserer Angst stellen, dass heißt, die Kontrolle über unsere Partnerin oder unseren Partner als Solche erkennen, um ihr dann nicht zu folgen, werden wir diesen Schritt kaum tun. Und dieser Schritt ist verbunden mit der Todesangst des Säuglings ins uns. Deshalb wollen wir unbewusst die Kontrolle nicht aufgeben und finden gute Gründe dafür. Diesen Anteil gibt es immer noch in uns. Wollen wir ihn das Innere Kind nennen? Wir können anfangen, uns um dieses Innere Kind selbst zu kümmern. Wir können schauen, was ihm gut tut und zwar ohne die Partnerin oder den Partner mit einzubeziehen.

„Ihr Inneres Kind hat nichts auf dem Schoß von Ihrem Geliebten zu suchen!“ sagte einmal die Therapeutin einer Freundin zu ihr. Ich weiß nicht, ob ich es so pauschal ausdrücken würde, doch dieser Satz hat mich beeindruckt.

Wir können und müssen manchmal Hilfen von außen für das Erlernen der Selbstversorgung in Anspruch nehmen. Dagegen ist nichts einzuwenden. Doch den Schmerz und die Hilflosigkeit des Kindes in uns zu spüren, kann uns niemand anderes abnehmen. Sind wir dazu wirklich immer wieder bereit, solange dieser alte Schmerz auftaucht? Sind wir zudem bereit, auch den heutigen Schmerz, die Enttäuschungen des Lebens mit Tränen und Schluchzen auszudrücken? Wir würden erkennen, dass das Leben deutlich leichter und die Beziehungen tiefer, befriedigender werden. Das Leben fängt an zu fließen. Eine Qualität, die das Lebendigsein ausdrückt, wie keine andere, taucht in unserer 2. Lebenshälfte auf. Es ist die Hingabe.

 

Peter Hellwig, Heilpraktiker für Psychotherapie, Familienaufsteller, Gestalttherapeut, Ehe- und Paarberatung, Therapie, Coaching, Supervision, Ausbildung, Organisationsaufstellungen, Göttingen, www.hellerweg.de, Mail: info@hellerweg.de, Tel: 0551 3795777

 


Selbst damit fertig zu werden schließt mit ein, dass man sich zur Bewältigung dieser Angst auch therapeutische Hilfe nehmen kann. Nur die Partnerin oder der Partner sind als Hilfe in dieser Situation allermeistens ungeeignet.

Dazu gibt es meines Erachtens Ausnahmen, doch die hier aufzuführen, würde den Rahmen des Artikels übersteigen.

 

Dieser Artikel wurde im Mai 2010 im Ginkgo-Magazin veröffentlicht.

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