Stille und Dunkelheit
Nicht nur die Dunkelheit ist Ursprung.
Auch die Stille.
Vielleicht sind sie Geschwister. Vielleicht sind sie dasselbe, in unterschiedlicher Gestalt. Die Dunkelheit entzieht sich dem Blick, die Stille entzieht sich dem Zugriff. Beide entziehen sich dem Wissen. Beide fordern nichts. Beide warten nicht einmal. Sie sind einfach da.
Bevor etwas Form annimmt, ist Stille.
Bevor etwas gesehen wird, ist Dunkelheit.
Wir fürchten beides, weil sie uns nicht antworten. Weil sie keine Bestätigung liefern. Weil sie uns nicht spiegeln, wer wir zu sein glauben. In der Stille zerfällt das Gerede der Identität. In der Dunkelheit lösen sich die Umrisse auf. Dort gibt es kein „Ich weiß“, kein „So ist es“, kein „Das bin ich“. Nur ein offenes Feld, das uns hält, ohne uns zu definieren.
Die Stille ist nicht das Gegenteil von Geräusch.
So wie die Dunkelheit nicht das Gegenteil von Licht ist.
Geräusche tauchen in der Stille auf und vergehen wieder in ihr. Licht erscheint in der Dunkelheit und verschwindet in ihr. Die Stille bleibt. Die Dunkelheit bleibt. Sie sind nicht leer – sie sind tragend. Wie ein Schoß. Wie ein Raum, der nicht fragt, was in ihm geschieht.
Alles Wesentliche in unserem Leben entsteht aus dieser Tiefe. Gedanken kommen aus der Stille und kehren zu ihr zurück. Gefühle steigen aus einer wortlosen Tiefe auf. Auch Schmerz, auch Angst, auch Scham. Besonders sie. Und doch versuchen wir, sie sofort zu erklären, zu benennen, zu therapieren, zu erhellen. Wir schalten das Licht an. Wir füllen die Stille. Wir halten es kaum aus, nicht zu wissen.
Dabei ist das Nicht-Wissen vielleicht die ehrlichste Form von Weisheit.
Die Stille sagt nicht: „So ist es.“
Sie sagt: „Lausch.“
In ihr gibt es kein Urteil. Kein richtig oder falsch. Kein Fortschritt. Kein Ziel. Nur ein tiefer, weiter Raum, in dem etwas reifen darf, ohne gedrängt zu werden. Wie ein Same im dunklen Boden. Wie ein Kind im Mutterleib. Wie eine Seele zwischen zwei Leben.
Die Welt, die wir geschaffen haben, ist laut. Sie ist hell. Sie ist permanent beleuchtet, permanent kommentiert, permanent bewertet. Selbst die Nacht wird erleuchtet, selbst der Schlaf wird überwacht, selbst die innersten Regungen sollen sichtbar, erklärbar, optimierbar sein. Wir nennen das Bewusstsein. Wir nennen das Fortschritt. Doch vielleicht ist es vor allem eine tiefe Angst vor der Stille und vor der Dunkelheit.
Denn in der Stille gibt es kein Publikum.
In der Dunkelheit keine Bühne.
Dort können wir uns nicht inszenieren. Dort fallen unsere Rollen ab. Dort verlieren unsere Geschichten ihre Schärfe. Und genau das macht sie heilig. Denn dort sind wir nicht jemand. Dort sind wir.
Die Stille ist wie eine dunkle Mutter. Sie spricht nicht, aber sie trägt. Sie tröstet nicht aktiv, aber sie hält. Sie erklärt nichts, aber sie lässt sein. In ihr erinnern wir uns – nicht an Fakten, sondern an ein ursprüngliches Zuhause. An ein Davor. An ein Jenseits von Identität.
Vielleicht ist Heilung nichts anderes, als wieder still werden zu dürfen.
Nicht still gemacht zu werden. Sondern still zu werden.
In dieser Stille beginnt etwas zu sinken. Gedanken verlieren ihr Gewicht. Alte Geschichten lösen sich aus dem Körper. Etwas ordnet sich nicht neu – es hört einfach auf, sich zu verspannen. Und manchmal, ganz leise, zeigt sich etwas, das nicht neu ist, sondern uralt. Eine Wahrheit ohne Worte. Ein Wissen ohne Inhalt. Ein Einverstanden-Sein ohne Grund.
Die Stille will nichts von uns.
Und genau deshalb ist sie so radikal.
Sie lässt uns mit dem zurück, was wir wirklich sind, wenn niemand hinsieht und nichts gesagt wird. Sie ist kein Werkzeug. Kein Mittel. Kein spirituelles Ziel. Sie ist der Grund, auf dem alles steht.
So wie die Dunkelheit nicht überwunden werden will, will auch die Stille nicht gefüllt werden. Sie will bewohnt werden. Geehrt. Als das, was uns immer schon umgibt – zwischen zwei Atemzügen, zwischen zwei Gedanken, zwischen zwei Leben.
Vielleicht brauchen wir kein neues Wissen.
Vielleicht brauchen wir mehr Mut zur Stille.
Mehr Vertrauen in die Dunkelheit.
Mehr Bereitschaft, uns von dem halten zu lassen, was wir nicht verstehen.
Denn dort, wo Stille und Dunkelheit sich berühren, beginnt nicht die Leere.
Dort beginnt das Geheimnis.